Wir müssen unser Dasein soweit als möglich annehmen






" (...) Wir müssen unser Dasein so weit, als irgend geht, annehmen; alles, auch das Unerhörte muss darin möglich sein. Das ist im Grunde der einzige Mut, den man von uns abverlangt, mutig zu sein zu dem Seltsamsten, Wunderlichsten und Unaufklärbarsten, dass uns begegnen kann. 

Dass die Menschen in diesem Sinne feige waren, hat dem Leben unendlichen Schaden getan; die Erlebnisse, die man "Erscheinungen" nennt, die ganze sogenannte "Geisterwelt", der Tod, alle diese uns so anverwandten Dinge, sind durch die tägliche Abwehr aus dem Leben so sehr hinausgedrängt worden, dass die Sinne, mit denen wir sie erfassen könnten, verkümmert sind. Von Gott gar nicht zu reden. Aber die Angst vor dem Unaufklärbaren hat nicht das Dasein des einzelnen ärmer gemacht, auch die Beziehungen von Mensch zu Mensch sind durch sie beschränkt, gleichsam aus dem Flussbett unendlicher Möglichkeiten herausgehoben worden auf eine brache Uferstelle, der nichts geschieht. 

Denn es ist nicht die Trägheit allein, welche macht, dass die menschlichen Verhältnisse sich so unsäglich eintönig und unerneuert von Fall zu Fall wiederholen, es ist die Scheu vor einem neuen, nicht absehbaren Erlebnis, dem man sich nicht gewachsen glaubt. Aber nur wer auf alles gefasst ist, wer nichts, auch das Rätselhafteste nicht, ausschließt, wird die Beziehung zu einem anderen als etwas Lebendiges leben und selbst sein eigenes Dasein ausschöpfen. (...) 



                                                                                                              Ranier Maria Rilke, 1903
                                                                                  Briefe an einen jungen Dicher, Seite 61, ff.
                                                                                                                Suhrkamp-Verlag 1989 

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